Morris Berman: Die Wiederverzauberung der Welt

Auszüge aus Morris Bermann 1985: Wiederverzauberung der Welt. Am Ende des Newtonschen Zeitalters. Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg

Um unsere Erörterung der wissenschaftlichen Revolution zusammenzufassen, ist es notwendig zu bemerken, dass sich in Westeuropa im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine neue Art der Realitäts­auffassung herausbildete. […] Das Universum, das einst als belebt angesehen wurde und seine eigenen Ziele und Zwecke besaß, ist nun zu einer Ansammlung träger Materie geworden, die endlos und ohne Sinn herumschwirrt. […] Der Härtetest für etwas Existierendes ist Quantifizierbarkeit, es gibt keine anderen Realitäten in einem beliebigen Gegenstand als die Teile, in die er zerlegbar ist.

Sir Isaac Newton antwortete auf die Frage, was seine Theorie des Lichts und der Farben wäre: Wenn ihr mich fragt, was „rot“ ist, kann ich nur sagen, dass es eine Zahl ist, ein gewisses Maß an Berechnung, und dasselbe gilt für jede der anderen Farben. Ich habe es gemessen. Das genügt. (S.45)

Der Dichter mag überschwänglich werden wegen eines roten Streifens am Himmel bei Sonnenunter­gang, aber der Wissenschaftler wird nicht so leicht getäuscht: Er weiß, dass seine Gefühle ihn nichts Wesentliches lehren können. Der rote Streifen ist eine Zahl, und das ist das Wesen der Sache. (S.46)

Quantifizierbarkeit und der bewusste Akt, die Natur als Abstraktion zu betrachten, von der man sich distanzieren kann, eröffnen die Möglichkeiten, die Francis Bacon[1] als das wahre Ziel der Wissenschaft verkündet hatte: Kontrolle. […] Die ganzheitliche Sichtweise, die den Menschen als Teil der Natur ansieht, der mit dem Kosmos vertraut ist, ist romantischer Schnickschnack. Nicht das holistische Denken, sondern die Beherrschung der Natur, nicht der zeitlose Rhythmus der Ökologie, sondern die bewusste Verwaltung der Welt, nicht der Zauber der Persönlichkeit, sondern der Warenfetisch. (S.47)

Es war die industrielle Revolution, die die wissenschaftliche Revolution hervorbrachte. Bacons Traum einer technologischen Gesellschaft wurde weder im 17. noch im 18. Jahrhundert, sondern erst ab dem 20. Jahrhundert verwirklicht. […] Um die Bedeutung der wissenschaftlichen Revolution in der westlichen Geschichte zu erfassen, müssen wir das soziale und ökonomische Milieu berücksichtigen, das dazu diente, diese neue Denkweise zu nähren. Denn Ideen setzen sich nicht aufgrund ihrer Richtigkeit durch, sondern aufgrund ihrer Beziehung zu bestimmten gesellschaftlichen Prozessen.[2]

Der hervorstechendste Aspekt der mittelalterlichen Weltsicht ist ihr Gefühl der Geschlossenheit, ihre Vollständigkeit. Der Mensch steht im Zentrum des Universums, das an seiner äußersten Sphäre von Gott, der unerschütterlichen Triebkraft, begrenzt wird. […] Alles bewegt sich und lebt in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen. Alle Natur, Felsen wie Bäume, ist organisch und wiederholt sich selbst in ewigen Kreisläufen von Entstehung und Verfall. (S. 49)

Das 17. Jahrhundert begann mit der Suche nach Gott im Universum und endete damit, dass er vollständig aus ihm verdrängt wurde. […] Das Ergebnis davon ist, dass sich unsere Beziehung zur Natur grundlegend geändert hat. Im Unterschied zum mittelalterlichen Menschen, dessen Beziehung zur Natur auf Gegenseitigkeit beruhte, sieht sich der moderne Mensch (der existentialistische Mensch) im Besitz der Fähigkeit, die Natur zu kontrollieren und zu beherrschen, sie für seine eigenen Zwecke zu benutzen. (S. 50f)

Die vom christlichen Weltbild durchdrungene Kultur war durch eine feudale Ökonomie und einen religiösen Lebensstil gekennzeichnet. Im Großen und Ganzen wurden Nahrungsmittel und landwirtschaftliche Produkte nicht für den Markt oder für den Profit hergestellt, sondern für den unmittelbaren Ver- und Gebrauch. Mit Ausnahme der Luxusgüter gab es Handel nur innerhalb lokaler Gebiete. […] Bis zum späten 15. Jahrhundert war fast alle Schifffahrt küstennah: Schiffe blieben in Sichtweite des Festlandes aus Furcht, sich zu verirren. (S. 51f)

Die Gilden, die auf der Basis des individuellen Auftrags produzierten, betonten eher Qualität als Quantität und hüteten die Geheimnisse der Handwerkskunst. Es gab keine Vorstellung von Massenproduktion und sehr wenig Arbeitsteilung. Die Ökonomie war im Wesentlichen ein in sich geschlossenes Belohnungssystem. Es könnte nicht beschrieben werden als ein System, das sich in eine bestimmte Richtung „entwickelte“, unsere Begriffe von Wachstum und Expansion hätten in dieser selbstgenügsamen Welt wenig Sinn ergeben. (S. 52)

Die Erklärungen von Vorkommnissen werden nun in Begriffe der mechanischen, mathematisch beschreibbaren Bewegung der trägen Masse eingebettet. Die Natur (einschließlich der Menschen) wird somit zum Material, das man sich aneignen und formen kann. […] Die Vernunft ist nun völlig (zumindest theoretisch) instrumental, zweckrational. Man kann nicht länger fragen: „Ist das gut?“, sondern lediglich: „Funktioniert es?“ Eine Frage, die die Einstellung der Handelsrevolution und die wachsende Betonung der Produktion, Vorhersehbarkeit und Kontrolle wiedergibt. (S. 54f)

Weil wir selbst in einer Gesellschaft leben, die so vollständig von der Geldwirtschaft dominiert wird, weil der Geldwert der Dinge zu ihrem einzigen Wert geworden ist, fällt es uns schwer, uns ein Zeitalter vorzustellen, das nicht vom Geld beherrscht ist, und es ist fast unmöglich, zu verstehen, wie sehr die Einführung der Geldwirtschaft das Bewusstsein des frühneuzeitlichen Europas prägte. Die plötzliche Betonung des Geldes und des Kredits war die hervorstechendste Tatsache des ökonomischen Lebens während der Renaissance. Die Anhäufung riesiger Summen in den Händen weniger einzelner, wie zum Beispiel der Medici, gab dem Kapitalismus eine magische Qualität, um so mehr als der zunehmende Ablasshandel den Zutritt zum Himmel unter seinen Einfluss brachte. Die Erlösung war das eigentliche Ziel des christlichen Lebens gewesen; nun da sie gekauft werden konnte, war es das Geld.

[…] In einer Gesellschaft, die auf dem Weg war, die Welt als ein einziges großes arithmetisches Problem zu sehen, schien die Auffassung, dass es eine heilige Beziehung zwischen dem einzelnen und dem Kosmos gäbe, zunehmend dubios. (S. 55)

Die Zeitauffassung vor der Neuzeit war zyklisch. Für die Menschen des Mittelalters folgten die Jahreszeiten und die Lebensereignisse einander in tröstlicher Regelmäßigkeit. Die Auffassung, dass Zeit linear verläuft, war dieser Welt in ihrem Erleben fremd und das Verlangen, sie zu messen, dementsprechend gedämpft. Schon ab dem 13. Jahrhundert änderte sich diese Situation[…] Zeit war nun immer etwas Hinforteilendes. Ab dem 14. Jahrhundert schlagen in allen italienischen Städten Uhren die 24 Stunden; man wird sich bewusst, dass die Zeit knapp und daher kostbar ist, dass man daher keine Zeit verlieren darf, mit ihr haushalten, wirtschaftlich, sparsam mit ihr umgehen muss, wenn man sich zum Herren aller Dinge machen will. Solche Zeitökonomie kannte das Mittelalter noch nicht, es hatte noch Zeit und brauchte sie daher nicht als teures Gut zu schätzen. (S. 56)

Das Leben und das menschliche Wesen sind im Kern verrückt  und breit gefächert; Neurose ist die Unfähigkeit diese Tatsache akzeptieren zu können. […] Solve et coagula, sagte der Alchimist. Löse dich von deinem erstarrten Ego, das dich in vorhersehbares Verhalten und in ein Leben institutionalisierter Geisteskrankheiten zwingt. Um dein Leben meistern zu können, musst du deine künstlichen Kontrollmechanismen aufgeben, deine so genannte Identität, das brüchige Ego, von dem du so versessen glaubst, es für dein Überleben zu brauchen. Echtes Überleben (Gold) besteht darin, den Geboten deiner eigenen Natur zu folgen, was wiederum nicht eher der Fall sein kann, als du der Gefahr deines eigenen psychischen Todes Aug in Auge gegenüber gestanden hast. Nach Auffassung der Alchemie liegt darin die Bedeutung der Leidensgeschichte Christi. Als Christus sagte, ich bin der Weg, meinte er damit, du musst durch dieselbe Prüfung wie ich ganz alleine hindurchgehen. Niemand anders kann für dich deinen Dämonen entgegentreten, niemand anders kann für dich dein wahres Selbst geben. (S. 94f)

  1. 96: In den Welten, die sich aus partizipierenden und nicht-partizipierenden Bewusstsein aufbauen, wird jeweils eine andere Sprache gesprochen. Daher stellt sich die Frage, was der Alchemist in Wirklichkeit tat, als Falle heraus. Denn was meinen wir mit dem „in Wirklichkeit“? Wir meinen damit das, was wir oder ein Chemiker der Neuzeit tun würden, wenn wir oder er zeitlich in das Laboratorium eines Alchemisten zurückversetzt werden könnten. Aber was tatsächlich vor sich ging, war das, was der Alchemist wirklich tat und nicht was wir Menschen der Moderne mit unserem nicht-partizipierenden Bewusstsein tun würden, wenn man uns ins 14. Jahrhundert zurückversetzen könnte. Hätten wir zu diesem Zeitalter gehört, hätten wir ein partizipierendes Bewusstsein und infolgedessen das getan, was ein Alchemist tat. Somit kann es auf die Frage, „was tat der Alchemist tatsächlich?“ von einem neuzeitlichen Standpunkt aus keine sinnvolle Antwort geben. Mit anderen Worten ausgedrückt: Die Welt, in der die Alchemie lebte, kannte keine klaren Unterschiede zwischen geistigen und materiellen Phänomenen. Unter diesen Bedingungen gab es nichts derartiges wie Symbolik. Alle Ereignisse und Vorgänge, die in der Realität stattfanden, hatten ihre Abbilder und Entsprechungen im Bereich der Psyche. Alchemie war aus heutiger Sicht die Wissenschaft von der Materie, der Versuch, die Geheimnisse der Natur aufzudecken. Sie entwickelte eine Reihe von Verfahren, die im Bergbau, in der Färberei, der Glasmanufaktur und in der Zubereitung von Arzneien angewendet wurden. Gleichzeitig war sie eine Wissenschaft der psychischen Transformation. In der Alchemie hat Materie demnach Bewusstsein besessen. Dies bedeutete die Fähigkeit, Materie zu transformieren und mit Bewusstsein zu arbeiten. Eine Tradition, die heute nur noch in Bereichen wie Dichtung und Kunst oder handwerklichen Künsten erhalten ist. Wir sehen in der Kunst die Fähigkeit, Dinge von großer Schönheit zu kreieren als Widerspiegelung der Persönlichkeit des Schöpfers.

Wir kommen somit dazu, zu sagen, dass die Befähigung des Alchemisten von seiner Beziehung zu seinem eigenen Unbewussten abhängig war. Gleichzeitig stellen wir mit dieser Aussage die Grenzen unseres eigenen Verständnisses unter Beweis. Der Begriff unbewusst gehört […] zur Sprache des modernen entkörperlichten Intellekts. Für den Alchemisten war alles eine Einheit. Es gab kein Unbewusstes.

Der neuzeitliche Geist kann gar nicht anders, als die okkulten Wissenschaften als ein riesiges Durcheinander wirrer Auffassungen über das Wesen der materiellen Welt zu sehen. Das lässt sich darauf zurückführen, dass die meisten nicht in Erwägung ziehen, dass das Bewusstsein, mit dem der Alchemist der Welt entgegentrat, völlig verschieden von seinem eigenen war. […] (S. 97)

Die Herstellung von Gold bestand nicht im Nachvollzug einer chemischen Formel. Sie war vielmehr Teil eines viel größeren Unterfangens. Unser Versuch, die materielle Essenz aus einem ganzheit­lichen Prozess herauszulösen, enthüllt, wie eingeschränkt unser Wissen um die Welt geworden ist.

Selten wird aufgedeckt, wie viel Irrglauben das moderne Denken über andere Wirklichkeiten produziert. S. 98

Das materielle Ziel des Alchemisten, die Umwandlung von Metallen, ist nun von der Wissenschaft verwirklicht worden. Der alchemische Kolben ist jetzt die Spaltung des Urans. Dieser Erfolg ist genau das Ergebnis, das die Alchemisten fürchteten und vor dem sie auf der Hut waren. Nämlich dass eine übermächtige Kraft in die Hände derer fällt, die durch keine spirituelle Einübung fähig sind, mit ihr umzugehen. Wären Wissenschaft, Philosophie und Religion so miteinander verbunden geblieben, wie sie es in der Alchemie waren, wären wir heutzutage nicht mit diesem beängstigenden Problem konfrontiert. (Taylor, Sherwood 1976: The Alchemists. 1976 by Granada Publishing Limited. S. 233f zit nach Berman 1985 S. 100)

Im Mittelpunkt vorneuzeitlicher Glaubensinhalte stand eine Sicht auf die Natur, die der neuzeitlichen Wissenschaft diametral gegenüberstand: Die Auffassung, dass Gott in allen Dingen gegenwärtig ist, dass Materie belebt ist (Pantheismus) […] und dass im Gegensatz zur hierarchischen Struktur der Kirche jeder einzelne direkt oder indirekt eine Gotteserfahrung machen und Erleuchtung erlangen kann. […] S. 131

Nach der Restauration[3] des Hauses Stuart (1660 bis 1688) betrachteten die herrschenden Eliten die Philosophie des Mechanismus als vernünftiges Gegenmittel gegen die okkulte Weltsicht, die in gewisser Weise sozialistische Züge trug. Schon in den Anfängen der Royal Society (1667) war die Philosophie des Mechanismus ein Mittel, mit dem Respekt vor Recht und Ordnung eingeflößt werden konnte. Es wurde sowohl von den Vertretern der Wissenschaft als auch der Royal Society als ihre Aufgabe angesehen, die okkulte Weltsicht und den Animismus zu bekämpfen. Sie befürchteten, dass das stete Gedeihen von Glaubensrichtungen, die auf Mystik und individuellem Gewissen basierten, in völliger Religionslosigkeit enden würde. Da die Herrschaft der Königshäuser durch „Gottes Gnaden“ verliehen wurde, hätte es das Ende der Monarchien bedeutet, wie die Gegenreformation und der 30-jährige Krieg im 17. Jahrhundert gezeigt haben. Das Haus Habsburg hat die Menschen mit roher Gewalt wieder „katholisch gemacht“. Doch gab es auch in den protestantischen Ländern Nordeuropas noch lange keine Befreiung für die breite Bevölkerung. Der protestantisch-rationalistische Angriff auf die magischen Rituale und okkulten Weltsicht versprach der Mittelklasse weltliche Erlösung und weltliches Heil. Menschen der ärmeren Klassen gingen dabei leer aus.

  1. 134: Aus empirischer Sicht gab es am Beginn der Neuzeit keine wissenschaftliche Begründung für die Verschiebung des partizipativen Bewusstseins zur Mechanik. So gab es beispielsweise keinerlei Experimente über die Natur der Materie, die diesen Wandel gerechtfertigt hätten. Zum unwissenschaftlichen Charakter dieser Wandlung kommen zwei Faktoren hinzu: Die Kräfte, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts den Sieg davontrugen, gehörten zur Ideologie der Bourgeoisie und zum Laissez-faire-Kapitalismus. Für diese Gruppierungen war – von einem ökonomischen Standpunkt aus betrachtet – die Idee der belebten Natur nicht nur Ketzerei, sondern schlichtweg lästig. Das ökologische Gleichgewicht wurde vor der Neuzeit durch eine entsprechende Geisteshaltung aufrechterhalten. Wenn die Natur jedoch für tot erklärt wird, kann sie aus Profitgründen ohne Einschränkungen ausgebeutet werden. (Wer aus einer animistischen Geisteshaltung heraus die Natur als lebendiges Wesen wahrnimmt, wird sie nicht ausbeuten. Anm El).

Darüber hinaus trug der Siegeszug der puritanischen Lebensauffassung dazu bei, die Persönlichkeitsstruktur unserer Zeit zu schaffen, die im Angesicht von Autoritäten fügsam und unterwürfig ist und auf Rivalen und Untergeordnete mit erbitterter Aggression reagiert. In dieser Lebenshaltung sollten, wie Freud empfohlen hat, sexuelle Energien nicht der Lust, sondern der Sublimierung dienen, wodurch die Menschen verrohen und einen Charakterpanzer bilden, wie Reich diese Merkmale benannte. Dies zeigt sich deutlich an den Gemälden von Isaac Newton. Auf frühen Bildern ist er von einem Ausdruck von Leichtigkeit und Sanftheit umgeben, am Ende sind die Starrheit und Unbeweglichkeit der mechanistischen Weltauffassung zu erkennen. Newton hat seine eigenen Gesetze zum Preis der gesellschaftlichen Anpassung und Anerkennung geleugnet. Darin zeigt sich die Tragödie des Menschen der Neuzeit.

  1. 140 Im Surrealismus versuchten Künstler das Unbewusste zu befreien, siehe beispielsweise die Bilder von Salvador Dali. Da das Unbewusste jedoch in so hohem Maße unterdrückt ist, ist sein Sprachrohr im Nachkriegseuropa und -amerika nicht mehr die Kunst, sondern der Wahnsinn. Die dem Wahnsinn verfallenen erfahren etwas, was wir vergessen haben. Die geistige Gesundheit der westlichen Kultur ist nach Reich, Nietzsche u.a. kollektiver Wahnsinn. (S. 141) an einer anderen Stelle schreibt Morris: Der Wahnsinn ist nicht einfach der Zusammenbruch der Psyche. Tatsächlich ist er der Versuch, die Psyche zu retten. (S. 253)
  2. 141 Genaugenommen sind alle humanistischen Therapieformen im ursprünglichen partizipativen Bewusstsein verwurzelt. Der Einsatz von Kunst, Tanz, Psychodrama, Meditation, Körperarbeit Familienaufstellungen und ähnlichem mündet letztlich in der Verschmelzung von Subjekt und Objekt oder in einer sinnlichen Identifikation mit der Welt. Ein guter Therapeut ist ein Meister der Alchemie und eine wirkungsvolle Therapie bedeutet im Wesentlichen eine Rückkehr zur inneren organischen Ordnung, die die Magie verkörpert.

Die Klassifikationssysteme der modernen Wissenschaft mit ihrem Linnéschen Präzisions- und Ordnungsprinzipien scheinen dem Ego zu entspringen und ausschließlich rational-empirisch zu sein. Sie stellen ein logisches Ordnungssystem dar, das der Natur und der menschlichen Psyche aufgezwungen wird. Dadurch wird etwas verletzt, was die Magie trotz all ihrer technologischen Einschränkungen aus instinktiver Weisheit heraus zu bewahren wusste. (S. 142)

  1. 142f Wir ließen eine ganze Landschaft innerer Wirklichkeiten außer Acht, weil sie nicht in unser Programm der industriellen und merkantilistischen Ausbeutung und Weisungen der organisierten Religionen passt. Heutzutage wird dieses spirituelle Vakuum durch alle möglichen Arten zweifelhafter mystischer und okkulter Bewegungen gefüllt. Ein gefährlicher Trend, der aus unserem Verlust des partizipativen Bewusstseins resultiert und der durch das Ideal des entkörperlichten Intellekts wie auch durch den klassischen Bildungsbegriff bestärkt wird. Moderne Wissenschaft und Technologie basieren nicht nur auf einer feindseligen Haltung gegenüber der Welt, sondern auch auf der Unterdrückung des Körpers [der Leiblichkeit] und des Unbewussten.

Falls es nicht gelingt, das partizipierende Bewusstsein wiederherzustellen, wird uns die Bedeutung dessen verloren gehen, was es heißt, ein Mensch zu sein.

  1. 144 Moris Bermans Analyse der modernen Wissenschaft legt den Schluss nahe, dass die westliche Welt einen hohen Preis für den Triumph des kartesianischen Paradigmas bezahlt hat. […] Man kann sogar seine objektive Genauigkeit anzweifeln, da dieser Triumph über die Metaphysik des parti­zipie­renden Bewusstseins kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer Prozess war. Das teil­nehmen­de Bewusstsein wurde abgelehnt, nicht widerlegt. Daraus folgt, dass wir die Möglichkeit in Erwä­gung ziehen müssen, dass die moderne Wissenschaft der okkulten Weltsicht ideenge­schicht­lich nicht überlegen ist und dass eine Metaphysik partizipierenden Bewusstseins vielleicht sogar zu­tref­fender sein könnte als die kartesianische Metaphysik (S. 145)
  2. 145 Unsere Kultur klammert sich weiterhin an die mechanistische Auffassung mit all den Problemen und Fehlern, die sie beinhaltet, weil eine Rückkehr zum Animismus weitgehend abgelehnt wird.

Elisabeth Loibl: Die Gründe dafür sind meines Erachtens darin zu finden, dass Verbundenheitsgefühle mit der Natur jahrhundertelang als rückständig und fortschrittsfeindlich diskreditiert wurden.

Mit Ende zwanzig habe ich eine Erfahrung gemacht, die Morris Berman partizipatives Lernen nennt. Vier Semester lang hatte ich versucht, an der Universität Wien Schwedisch zu lernen. Mit dem Ergebnis, dass ich keinen einfachen Satz verstehen und mich auch nicht verständigen konnte. Mein Wunsch, diese Sprache zu lernen, war so groß, dass ich am Tag meiner Diplomprüfung beschloss, mich als Au pair in diesem Land zu bewerben. Ich hatte Glück. Zwei Familien hatten Unglück mit ihren Kinderbetreuerinnen, die entweder nach dem Weihnachtsurlaub zu Hause nicht wiedergekommen ist oder nach Hause geschickt wurde, weil sie nicht in der Lage war, die Schürfwunde eines achtjährigen Buben zu versorgen und ihn zu trösten, als er sich verletzt hatte. Es dauerte zwei Monate, um die Menschen verstehen zu lernen. Den ganzen Tag eingehüllt in die Welt dieser Sprache, lernte ich Redewendungen ohne zu merken, dass ich lernte. Oft war ich überrascht, wenn ich wusste, wie etwas ausgedrückt wird. Nach drei Monaten in Schweden erhielt ich die ersten Komplimente, wie gut mein Schwedisch wäre.

Alles was wir denken, empfinden wir zuerst. Morris Berman nennt das Körperwissen oder auch partizipierendes Bewusstsein. Der Verstand dient lediglich dazu, das Empfinden in Worte zu fassen, damit wir es verstehen und begreifen können. Es heißt nicht, wie Descartes gesagt hat: Ich denke, daher bin ich, sondern: Ich bin, daher denke ich. Das ist der Grund, weshalb es uns Neuzeitmenschen so sehr an Bewusstheit fehlt. Denn Bewusstheit erfahren wir über unser Körperwissen und über unsere Verbundenheit mit der Erde durch unseren Leib. Da dieser aber in der modernen Wissenschaft weitgehend unterdrückt und als minderwertig erachtet wird, ist Bewusstwerdung für die meisten ein sehr schmerzhafter Prozess durch Krankheit und/oder seelische Krisen.

In diesem Zusammenhang einen mich sehr berührenden Satz von Berman, den er in Zusammenhang mit Double-bind und den Untersuchungen des Anthropologen und Kommunikationsforschers Gregory Bateson anführt: Der Wahnsinn ist nicht einfach der Zusammenbruch der Psyche. Tatsächlich ist er der Versuch, die Psyche zu retten. (S. 253) Der einzige Ausweg aus einem double bind, so scheint es, liegt darin, zu einer neuen Ebene ganzheitlichen Bewusstseins aufzusteigen, das neue und gesunde Verhaltensweisen ermöglichen wird. (S. 258)

[1] Bacon (1561-1626) war u.a. Berater der Königin Elisabeth I. und gilt als Wegbereiter des Empirismus. Er träumte von einem technologischen Zeitalter, das nach dem Zweiten Weltkrieg Wirklichkeit wurde.

[2] Berger, Peter 1965: Towards a Sociological Understanding of Psychoanalysis. In: Social Research Vol. 32, No. 1 (Spring 1965) pp. 26-42

[3] Wiederherstellung der politischen Zustände, in dem Fall der Monarchie