Der Angst entkommen

„Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum (die Lüge) um uns herum immer wieder gepredigt wird und zwar nicht von einzelnen sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum (die Lüge) obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite sind.“ Johann Wolfgang von Goethe

„Es ist leichter, Menschen zu täuschen als sie davon zu überzeugen, dass sie getäuscht wurden.“ Mark Twain

 „Wenn wir Angst bekommen, begeben wir uns in Sphären, wo wir diese Angst auch erleben.“ Christa Jasinsky

„Was uns heilt ist mit den Augen der Liebe auf die Welt zu blicken.“
Günter Kerschbaummayr

Das Jahr 2020 stellt für viele einen drastischen Einschnitt dar. Wir können uns entscheiden, ob wir – wenn die unfassbare Geschichte von Corona zu Ende sein wird – so weitermachen wollen wie bisher oder ob unsere Welt von gestern hinter uns liegt und wir Schritt für Schritt mit einer ungewohnten Weltanschauung in ein menschenwürdige(re)s Leben gehen werden, in einer Welt, die wir als Teil von uns betrachten – und nicht länger uns untertan. Das erfordert Mut und die Bereitschaft, die Veränderung zuzulassen.

Die gegenwärtige Zeitenwende wurde in uralten Überlieferungen angekündigt, sowohl mündlich bei den Eingeborenen des amerikanischen Kontinents als auch in den vedischen Schriften Indiens. Eine Ära des Schreckens (Kali Yuga), basierend auf Gewalt, Lüge, Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen und der Natur geht nun zu Ende.

Und doch habe ich den Eindruck, die Mehrheit verhält wie eine geschlagene Frau, die das alte Joch der Unterdrückung aufrechterhalten will, ihre Freiheit und Würde scheinen ihr nicht viel zu bedeuten. Sei der Grund dafür, weil sie ein solches Leben nicht kennt oder sich nicht für wert erachtet, ein solches Leben zu gestalten und zu führen. Vor einiger Zeit hatte ich das Bild von Angela Basset als Tina Turner* vor Augen nachdem sie sich von der Gewalt ihres Mannes befreit hatte. Es beginnt damit, dass sie Buddhistin wird und regelmäßig chantet.** Eines Tages wehrt die Sängerin sich und flüchtet in ein Hotel. Mit blutüberströmtem Gesicht bittet sie den Hotelmanager, ihr ein Zimmer zu geben, obwohl sie keinen Cent in der Tasche hat. Entsprechend diesem inneren Bild scheinen wir als Menschheit derzeit an dieser Stelle zu stehen.

Die meisten Menschen haben Schlimmes durchgemacht, wir sind kollektiv traumatisiert, die einen mehr die anderen weniger (vgl. Franz Ruppert 2018: Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft? Bessel van der Kolk 2017: Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann). Da gibt es einerseits die übertragenen Traumatisierungen unserer Vorfahren, die vielfach unbearbeitet an die kommenden Generationen weiter gegeben wurden und (wir als) Kinder in (unserer) ihrer Aufopferungsbereitschaft und Familienloyalität bereitwillig übernommen haben. Andererseits erleben wir seit dem Jahr 2000 kontinuierlich gesellschaftliche Krisen, die zu neuen Traumatisierungen führen – siehe beispielsweise 9/11 (2001), Vogelgrippe (2005), Finanzkrise (2008), Schweinegrippe (2009), Ebola (2014), „Flüchtlingskrise“ und ISIS (2015/16), Sars-Cov-2 (2020). Die Bilanz der laufenden Krisen wirft einerseits die Frage auf, wem nützt es, wenn Menschen ständig vor zusätzlichen Herausforderungen stehen und neue Ängste zu bewältigen haben? Andererseits hat durch diese Betrachtung meine Wertschätzung für uns Menschen zugenommen, weil wir in der Lage waren und sind all diese – wie mir scheint künstlich erzeugten – Belastungen zu meistern.

Bedauerlicherweise bedeutet das jedoch, wir befinden uns die meiste Zeit in einer Opfer-Täter.innen-Dynamik. Zumindest solange, bis uns diese bewusst wird, wir heil werden und daraus aussteigen können.

Männer wie Frauen sind in dieser Befreiung in unterschiedlichen Phasen. Da gibt es meiner Ansicht die überwiegende Mehrheit, die den Zustand der Drangsalierung als „normal“ ansieht. Werden diese gefragt, warum sie sich strukturelle, verbale und/ oder körperliche Gewalt gefallen lassen, sind die Reaktionen meist ruppig, abwehrend und oft verletzend. Wer über genügend Einfühlungsvermögen verfügt, kommt vielleicht dahinter, dass es sich hier um Ängste handelt, die sich in einer aggressiven oder verletzenden Art äußern. Auch hilft es, psychische Muster wie die Identifikation mit dem Aggressor oder das Stockholm-Syndrom als Erklärungsmodell heranzuziehen. Eine Frau kann ihren gewalttätigen Mann nicht verlassen, weil sie ihren „Geiselnehmer“ liebt und/oder die Gewalt an andere – meist an Kinder – weitergibt.

Eine Salzburger Bergbäuerin*** machte sich, als sie Anfang vierzig war, Gedanken darüber, wie sie verhindern kann, eine ebenso herzlose Schwiegermutter zu werden wie sie ihre eigene erlebt hatte. Der Clou, der zu einer Veränderung und einem Ausstieg aus dem sich selbst verletzenden Muster führen kann, liegt in der Bereitschaft sich den damit verbundenen Gefühlen zu stellen. Schmerz, Wut, Trauer, Unselbständigkeit und Verwirrung anzuerkennen, die jede Form von Dominanz begleiten. Und schließlich die schmerzhafte Einsicht, all das mit sich geschehen gelassen zu haben, durch die permanenten Angstzustände es sich nicht wert gewesen zu sein, in die eigene Freiheit aufzubrechen und nur noch einen würdevollen Umgang auf Augenhöhe zu erlauben.

Wer heute keine Angst vor der medial aufbereiteten Gefährlichkeit eines Virus hat, befindet sich auf dem Weg in Richtung Freiheit. Doch ist dieser steinig, er enthält viele Hürden und führt dazu, sich bei den in Angst und Schrecken versetzten Mitmenschen unbeliebt zu machen. Freundschaften werden beendet, in Lebensgemeinschaften und unter Eheleuten kommt es ständig zu Streit über die konträren Ansichten wie die derzeitige Situation einzuschätzen sei. Kolleg.innen gehen in die innere Emigration, weil sie teils berechtigte Sorge haben, ihre Ansichten könnten zu einem Mobbing führen. Vielen sind Menschen suspekt, die keine oder kaum Angst haben. Ja sie wirken durch die allseits geglaubte Erzählung bedrohlich.

Ist das eine der Hauptursachen der massiven Spaltung in der Bevölkerung, für die immer kleiner werdenden Gemeinsamkeiten und Fleckchen der Verständigung? Kann der Unterschied in einem unerschütterlichen Ur- oder Gottvertrauen geortet werden, das veranlasst, die öffentliche Erzählung nicht zu glauben, diese zu hinterfragen und die Angstmacherei zu durchschauen? Dabei zu bedenken ist die augenscheinliche Tatsache, dass den Menschen, die Angst haben, das Urvertrauen fehlt, sie daher Trost und Zuversicht brauchen. Auch wenn sie aggressiv reagieren, weil sie sich bedroht fühlen, gilt es immer wieder abzuwägen, ob es einem möglich ist, fürsorglich und verständnisvoll zu bleiben.

Wie ich in meinem Buch „Tiefenökologie. Eine liebevolle Sicht auf die Erde“ heraus gearbeitet habe, gibt es gesellschaftlich einen gravierenden Mangel an Mütterlichkeit und väterlichem Verhalten. Gestützt auf diese meine Sicht der Verhältnisse fehlt mir der Glaube, all die Entscheidungen für jene Maßnahmen, die seit März dieses Jahres veranlasst wurden, wären aus Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung getroffen worden. Doch genau diese Ansicht scheint der Kern des Zankapfels zu sein.

Es gibt einen enormen Bedarf an Deeskalation und Verständigung. Wir können damit anfangen, über unsere Ängste zu sprechen. Denn bekanntlich verlieren sie ihre Bedrohung, wenn sie beschrieben werden und ihnen auf den Grund gegangen wird. Und es wird immer wichtiger, über unsere Bedürfnisse zu sprechen anstatt Erwachsenen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. Ganz im Sinne von Marshall Rosenbergs gewaltfreier Kommunikation führt eine freundliche Bitte viel eher zu einer gewünschten Reaktion als eine gebieterische Vorschrift. Vor allem wird es wichtig sein, andere Ansichten stehen zu lassen, auch wenn sie der eigenen diametral gegenüber stehen. Eckhart Tolle (2001: Jetzt! Von der Kraft der Gegenwart) schreibt, nur ein aufgeblähtes Ego, das auf einem wackeligen Selbstwert ruht, versucht andere von der eigenen Meinung zu überzeugen.

Angst hat oft damit zu tun, ausschließlich mit dem Intellekt zu denken, der bekanntlich sehr anfällig ist für Manipulationen. Exupérys „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ gilt auch für das Denken. In Lateinamerika wird das Zeitalter, das nun beginnt, die „Era del Corazon“ genannt. Möge die Ära des Herzens uns dazu bringen, auf unsere Herzen zu hören und heil zu werden.

*) Biografischer Film: „Tina – What’s Love Got to Do with It?“ US 1993

**) Chanten bedeutet rhythmischer Sprechgesang bei dem ein Satz ständig wiederholt wird. Mich erinnert dies an den ersten der 12 Schritte der Anonymen Alkoholiker um eine Sucht zu überwinden. Das Ende einer Abhängigkeit ist erreicht, wenn jemand um Beistand und Hilfe zu beten beginnt, in der Einsicht, sich nicht aus eigener Kraft lösen zu können.

***) Theresia Oblasser hat sich das Erlebte von der Seele geschrieben und ihre Geschichte in zwei Büchern veröffentlicht: „Das Köpfchen voll Licht und Farben… Eine Bergbauernkindheit“ und „Eigene Wege: Eine Bergbäuerin erzählt“  (https://www.sn.at/wiki/Theresia_Oblasser)