Zwischen fremd- und selbstbestimmt

„Wir müssen gar nichts, nur uns täglich viele Male entscheiden.“
Pjotr Elkunoviz (elkunoviz.org)

Für viele ist die Frage nach einer selbstbestimmten Lebensführung eine Utopie, ein unrealistisches Unterfangen, vielleicht weil es aussichtslos scheint, den Alltag nach eigenem Ermessen und Belieben zu gestalten. Zu sehr werden bereits Kinder dahingehend sozialisiert, den Erwartungen von Erwachsenen und Autoritäten Folge zu leisten, sich anzupassen und weder als egoistisch noch als Widerspruchsgeist angesehen zu werden. Und doch ist in Gesprächen mit Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Sozialisationen, Lebensformen und Weltbildern immer wieder herauszuhören, wie sehr bestimmte Entscheidungen mit einem Wunsch nach mehr Selbstbestimmtheit zusammenhängen.

Menschen versuchen vielfach einen Weg zu finden, über den sie ihr Leben nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen einrichten können. Inwieweit dies gelingt und was Menschen dabei unterstützen könnte, hat wiederum überwiegend mit den anderen Menschen zu tun, die vor Ort angetroffen werden und mit denen man im Alltag zu tun hat. In diesem Beitrag wird beschrieben welche hemmenden und fördernden Faktoren dabei eine Rolle spielen, ob Menschen selbstbestimmt agieren können oder nicht. Wie kann ein Alltag außerhalb festgefahrener Bahnen nach eigenem Gutdünken und Begabungen gestaltet werden? Als größter hemmender Faktor bei der Selbstbestimmung, sich zu entfalten, erweist sich abgesehen von inneren Glaubenssätzen und Blockaden das menschliche Umfeld. Oft scheint es, als stimme der Satz: Der Mensch ist des Menschen größter Feind. Woher kommt diese Feindseligkeit, dieser Mangel an Großzügigkeit und die Missgunst? Wenn beispielsweise jemand eine Idee hat, etwas Neues zu schaffen, sind oft die missbilligenden Haltungen des menschlichen Umfeldes die größte Hürde, die genommen werden muss, um sich nicht von seinem Ziel abbringen zu lassen. Ich werde hierin des weiteren tiefere Schichten und Ursachen analysieren sowie sich ergebende Folgewirkungen von Sprachgebrauch, sozialem Umgang, Menschen- und Weltbildern auf die Selbstbestimmtheit erforschen.

Vorerst einige Begriffsbestimmungen, die zu einem besseren Verständnis beitragen wie auch Anregungen bieten sollen, Worte in ihrer ursprünglichen Bedeutung zu verwenden und sie von unsachgemäßen Wertungen und falschen Zuschreibungen, die in den vergangenen Jahrzehnten vorgenommen wurden, zu bereinigen.

„Alles Unrecht wird durch den falschen Gebrauch von Sprache verursacht, durch den Ideen und Glaubensvorstellungen entstanden sind, die das individuelle und das kollektive Ego ausmachen.“ (Anthony/Moog 2004: 476).

Tradition und Konservativismus

Die Worte „traditionsbewusst“ und „konservativ“ werden oftmals verwendet, wenn im Grunde ein engstirniges und intolerantes Verhalten beschrieben werden soll. Mir scheint die Verwendung in diesem Zusammenhang nicht angebracht, da die Wörter ursprünglich eine andere Bedeutung hatten. Um ein Wort gemäß der tatsächlichen Bedeutung einzusetzen, ist es erforderlich, sich auf den Wortstamm zu beziehen. Das Wort Tradition stammt vom lateinischen Wort „tradere“, das bedeutet: (von Hand zu Hand, mündlich oder schriftlich) weitergeben, überreichen, anvertrauen, überlassen, abtreten, übereignen. Ebenso kommt der Begriff konservativ von dem lateinischen Wort: „conservare“ wird gemäß Langenscheidt übersetzt mit „(vor dem Untergang) bewahren“, „beibehalten“, „aufrechterhalten“, „am Leben lassen“. Daher könnte der Begriff „Nachhaltigkeit“ mit den Worten „das Leben bewahren“ ausgedrückt werden. Nicht jedoch konserviert im Sinne von festgeschrieben, haltbar gemacht oder den Status quo erhaltend. Leben kann nur bewahrt werden und gedeihen, wenn es sich in kreativer Weise entfalten und gestaltet werden kann, mit einem Wort: lebendig ist.

Tradition wird aus heutiger Perspektive vielfach gleichgesetzt mit Einschränkung der individuellen Freiheit, Unterordnung in hierarchische, von Dominanz geprägten Strukturen, in denen die Jungen unmündig gehalten oder daran gehindert werden, eigene Wege zu gehen. Die Kultur der „Konservativen“ sei geprägt von Oberflächlichkeit, Heimatverbundenheit, Kitsch, Unmündigkeit und Dominanz sowie von einer unterwürfigen Religiosität. Es wird oft der Eindruck vermittelt, Menschen mit einer konservativen Weltanschauung seien nicht mehr zeitgemäß. Studiert man ältere Völker, in der es kaum oder gar kein Dominanzverhalten gibt, kann festgestellt werden, wie aufgeschlossen und freundlich diese Menschen allem Neuen und Unbekannten gegenüber sind, obwohl – oder weil – sie traditionell leben (siehe beispielsweise Dokumentationen über  den Stamm der „Todas – Am Rande des Paradieses“ von Clemens Cuby aus dem Jahr 1996 und „Tal der Frauen – Besuch einer Schweizer Bäuerin in einem Tal in Buthan“ von Marianne Pletscher 1994 sowie die Studien der Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth[1]). Es stellt sich die Frage, was waren die Ursachen für die Verdammung und Abwertung traditioneller Überlieferungen und Werte wie auch für die daraus folgende Polarisierung von Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen.

[1] https://www.goettner-abendroth.de/publikationen/buecher/

Ich gehe von der Annahme aus, dies wurde durch mediales Framing erreicht, das indoktriniertes Denken und Verhalten über weite Teile der westlichen Industrieländer unter die Menschen brachte. Maßgeblich basierte dieses Werk auf den Arbeiten des Sozialforschungsinstituts der Frankfurter Schule (Adorno 1955) und des Tavistock Institute (Bernays 2007, Marrow 2002, Coleman 2005). Durch die von Adorno (1955) propagierte so genannte Gegenkultur sollte alles, was mit Tradition und erdverbundenen Lebensformen zu tun hat, als rückständig diskreditiert und verworfen werden. Unter dem Banner der „Freiheit von den Fesseln der klassischen Kultur“ sollten auch alle Formen der Schönheit und Harmonie aus unserer Kultur entfernt werden. Dies ist am weit verbreiteten Baustil seit den 1950er Jahren zu erkennen wie auch an den disharmonischen Tönen und gesundheitsschädlichen Frequenzen der Musik (440 statt 432 Hertz). Die Ablehnung der Kultur früherer Generationen fand einen großen Zuspruch in der Wertevermittlung an die jüngere Generation durch viele Bildungsinstitutionen, ebenso durch die Hippie-Bewegung und in der horizontalen Kulturvermittlung unter Jugendlichen und jungen Menschen. Dadurch fand die Geringschätzung der Lebenserfahrungen der älteren Generationen eine weite Verbreitung. In den Augen vieler Jugendlicher und junger wie auch älterer Menschen sind Überlieferungen und Traditionen für die heutige Zeit unbrauchbar. Dadurch wird es u.a. auch möglich, traditionellen Lebensformen und jenen, die diese praktizieren, mit Respektlosigkeit und Herablassung zu begegnen. (Diese Erkenntnis wurde mir bewusst als ich 1997 die Subsistenzperspektive entdeckte. Die unverhohlenen Ressentiments und Abwertungen, die viele diesen auf Versorgung, Selbstbestimmung und menschlicher Gemeinschaft basierenden ökonomischen Ansatz entgegenbringen, wirkten nicht selten wie ein Schlag ins Gesicht – siehe Bennholdt-Thomsen, Mies 1997: 18ff und Loibl 2003: 5ff)

[1] https://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/adornolyrik.pdf

Demgemäß wissen auch eher die älteren Generationen ein Landleben und die Verbundenheit mit einem Ort zu schätzen, die als ein konservativer Wert angesehen wird. Aus einer solchen Art der Empfindung kann das Bedürfnis entstehen, einem Ort etwas zurückzugeben, in dem man/frau aufgewachsen ist und erste Erfahrungen gesammelt hat. Ist dies nicht der Fall, so ist dem Menschen in seinem Heimatdorf oft Geringschätzigkeit, Ignoranz oder gar Herabwürdigung begegnet, die allesamt Ausdruck von Lieblosigkeit sind.

Oftmals herrscht ein enger Blickwinkel vor im unmittelbaren menschlichen Umfeld, das für individuelle Lebensformen eher nicht aufgeschlossen zu sein scheint. Diese Unaufgeschlossenheit führe ich darauf zurück, dass wir Menschen kulturell und gesellschaftlich bedingt nicht mehr davon auszugehen scheinen, anderen ihren freien Willen zu lassen, mit dem sie ihr Leben und ihren Alltag in der Art gestalten können, wie sie es als richtig und zu ihnen passend erachten. Interessanterweise waren in diesem Zusammenhang in traditionellen und konservativen Lebensformen der früheren Generationen auch hierzulande oft noch Spuren davon vorhanden, wenn sie beispielsweise auf Handlungen anderer, die sie nicht befürworteten, mit den Worten reagierten: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.

Individualität und Egoismus

Im täglichen Sprachgebrauch wird oft die Bezeichnung Individualität als Egoismus aufgefasst, dabei ist der Unterschied zwischen einer Individualistin und einer Egoistin sehr groß. Wir Menschen sind als Individuen veranlagt, das heißt, wir wollen unsere individuellen Begabungen zum Ausdruck bringen und unsere Art zu leben, so frei wie möglich nach unseren Bedürfnissen gestalten. Jeder Mensch, der sich seiner Individualität bewusst ist, gesteht mit einer solchen Haltung auch anderen zu, derart zu entscheiden, damit der Alltag durch einen freien Gestaltungswillen organisiert werden kann. Es gilt der Satz: „Was du willst, das man dir tu, das füg auch allen anderen zu.“ Dieser ist den meisten in der Negation bekannt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“

Eine solche Haltung ist für einen psychisch gesunden Menschen ein Richtmaß. Arbeiten die beiden Gehirnhälften harmonisch zusammen, ist von einem gesunden Menschenverstand die Rede, der zu einem verinnerlichten Wissen darum führt, was Recht und was Unrecht ist. Hannah Arendt vertrat die Auffassung, wichtig am Denken sei nicht die Erkenntnis, sondern unterscheiden zu können zwischen richtig und falsch, schön und hässlich, Wahrheit und Unwahrheit (von Trotta 2012). Dies führt zu einem wirksamen Gewissen, das das eigene Verhalten anleitet und Unrecht meidet, gegebenenfalls auch dagegen auftritt. Als Unrecht wird angesehen, wenn ein fühlendes Wesen verletzt, bestohlen, getötet oder im eigenen Lebensausdruck unterdrückt, gehindert wird. Das bedeutet, ein Individuum darf all das tun, was niemandem schadet.

Egoismus wird im Gegensatz zu Individualismus laut Duden definiert als Eigennützigkeit. Es geht dabei um die Suche nach einem eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer. Bei Menschen deren Ausrichtung maßgeblich von Egoismus geprägt ist, sind weit verbreitet: Das Streben nach Prestige durch angesehene Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, um Macht und Kontrolle auszuüben (eher nicht um anderen zu Diensten zu sein). Jede Form von Dominanz ist Ausdruck von Egoismus. Das eigene Wollen wird als wichtiger angesehen als das der anderen. Dies führt aufgrund des propagierten Sozialdarwinismus[1] zu der Fehlannahme, andere hätten sich den Bedürfnissen des Stärkeren unterzuordnen. Ein dominanter Mensch nimmt sich das Recht heraus, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Gegebenenfalls werden andere durch Nötigung, Liebesentzug, Androhung von Gewalt etc. dazu gebracht, sich entgegen dem eigenen Willen zu verhalten und zu handeln. Eine Sozialisation in einer Dominanzgesellschaft, wie sie in sehr vielen Ländern dieser Erde vorherrscht, bringt meist mit sich, die eigenen Bedürfnisse dem Kollektiv unterzuordnen und dadurch die Individualität und den freien Willen aufzugeben. Vordergründig wird zwar davon ausgegangen, die Menschen der westlichen Zivilisationen seien individualistisch im Gegensatz zur Bevölkerung in Asien, Afrika und Lateinamerika, die eher auf den Kollektivismus ausgerichtet sei (Eckardt 2017: 147ff). Doch bei näherer Betrachtung handelt es sich in der westlichen Welt eher um ein vom kollektiven Egoismus gesteuertes Verhalten, das „aus trügerischen Worten und Bildern, fehlgeleiteten Ideen und Glaubensvorstellungen über das Wesen des Menschen und seinen Platz im Großen Ganzen hervorgeht. Dies kann als Ursache dafür angesehen werden, dass sich ein Mensch von der Einheit mit der allumfassenden Verbundenheit trennt und zu glauben beginnt, das Leben sei ein einziger Überlebenskampf. Die Gesamtheit dieser fehlgeleiteten Gedankenformen, einschließlich der sozialen Strukturen, die errichtet wurden, um diese Gedankenformen zu untermauern, wird als kollektives Ego bezeichnet. Dadurch hat der Mensch begonnen sich selbst als etwas Besonderes und die Natur als Untertan des menschlichen Geistes zu betrachten“ (Anthony/Moog 2004: 69f). Dies erachte ich (siehe Loibl 2014) als eine der maßgeblichen Ursachen für die destruktiven Verhaltens- und Wirtschaftsweisen der meisten mensch­lichen Zivilisationen gegenüber den sozialen wie auch den natürlichen Lebenssystemen auf der Erde.


[1] Sozialdarwinismus, Eugenik, moralischer Relativismus und die Auffassung, das Leben sei nur ein Überlebenskampf sind nach Passio (2013) die vier Grundpfeiler einer menschenverachtenden Gesellschaft. Der moralische Relativismus besagt, dass es so etwas wie Unrecht nicht gibt, wenn das Unrecht für jemanden von Vorteil ist. „Alles ist relativ!“

Darüber hinaus führt diese durch das kollektive Ego initiierte Geisteshaltung dazu, die menschliche Natur zu verkennen, abzuwerten und zu vergessen, dass Menschen Wesen mit kreativen Fähigkeiten sind.  Um etwas gestalten zu können, bedarf es vorerst einer Vorstellungskraft, die – wie es scheint – vielen Menschen verloren gegangen ist.

Den Mangel an Vorstellungskraft überwinden

Vielfach wird die Bezeichnung „traditionsbewusst“ angewendet, wenn es im Grunde darum geht, dass Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen, Prägungen und oft auch aufgrund einer Resignation keine Vorstellung mehr davon haben, wie sie sich anders verhalten und ihr Leben gestalten könnten. Eine lebendige, abwechslungsreiche und gesunde Lebensgestaltung hat sehr viel damit zu tun, über eine entsprechende Vorstellungskraft zu verfügen, was und wie man gerne leben würde. In weiterer Folge sind Kreativität und konkretes Handeln erforderlich, um Ideen umzusetzen und Wirklichkeit werden zu lassen. Wem dies im menschlichen Umfeld nicht gelingt, verlässt meist die ländliche Heimatgemeinde, sei es nur vorübergehend oder für immer, sei es weil jemand den Eindruck hat, durch familiäre oder gesellschaftliche Beschränkungen in der eigenen geistig-seelischen Entwicklung behindert zu werden oder die eigenen Begabungen im vertrauten Umfeld nicht ausleben zu können. Sei es, sie haben den Eindruck, der Kritik nicht gewachsen zu sein, die sie dafür ernten würden, wenn sie sich entschließen, im vertrauten Umfeld das zu tun, was ihnen persönlich entspricht. Sei es, sie fürchten, ausgegrenzt zu werden, wenn sie sich nicht gemäß den Anforderungen der anderen verhalten. Dadurch wird befürchtet, die Zughörigkeit zu verlieren oder welche Ängste auch immer dazu führen, den Selbstausdruck zu unterbinden.

Ist die Vorstellungskraft abhandengekommen, gehen viele in eine Art innere Emigration, verbittern, legen anderen bei Änderungswünschen Steine in den Weg (beispielsweise, weil sie es ja selbst auch nicht geschafft haben) oder sie verlegen ihre Träume in die Zukunft. Ist hingegen der Wunsch, die eigenen Potentiale zu leben, stark genug, werden jene Ängste, die jede Veränderung im Voraus mit sich bringt, in Kauf genommen und überwunden werden. Mit einer solchen inneren Haltung ist das Ausmaß an Vorstellungskraft ausreichend, um eine gewünschte Veränderung herbeizuführen

Wer zu neuen Horizonten aufbricht, lernt neue Ideen und Möglichkeiten wie auch vielfältige Herangehensweisen kennen, die die Vorstellungskraft beleben. Fehlt es hingegen an Imagination, werden Männer wie Frauen durch ihre Prägungen und inneren, oft unbewussten Glaubenssätzen geleitet. Dadurch wiederholen sie meist alte Muster und Rollenzuteilungen ihres persönlichen Umfeldes. Daher ist es wichtig, zuerst eine innere Veränderung herbeizuführen. Dazu ist es notwendig verhängnisvolle Verhaltensmuster zu durchschauen und ihre Wurzeln, die meist in der Kindheit liegen, zu ergründen. Im letzten Schritt können kränkende, herabwürdigende und schmerzvolle Erlebnisse durch die Art von Wunsch übermalt werden, wie jemand gerne handeln und behandelt werden will. Wer diese inneren Veränderungsschritte nicht vollzieht, wird allgemeinhin als „traditionsbewusst“ bezeichne. Doch hat dies mit der eigenen Einstellung und/oder verinnerlichten sozialen Glaubenssätzen zu tun, die ein Ausbrechen aus alten Rollen und Mustern erschweren, wenn nicht gar verhindern. Werden die Ergebnisse solcher Wiederholungen als Frustrationen oder sich gefangen fühlen erlebt, kommt es vor, dass jemand eines Tages aus bisherigen Routinen ausbricht. Sei es durch eine psychologische Beratung oder ein Coaching, durch eigene Einsichten oder Überlegungen, durch eine neue Beziehung, durch Unfall, Krankheit oder andere Veränderungen der Lebensumstände. Diese können einen Impuls geben, die Handlungsweise zu verändern und damit zu beginnen, den Alltag entsprechend den eigenen Vorstellungen von einem angemessenen guten Leben zu gestalten.  

Die Qual der Wahl zwischen Autonomie und Zugehörigkeit

Ein maßgebliches Dilemma scheint im Allgemeinen darin zu bestehen, zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem nach Autonomie entscheiden zu müssen (vgl. Hüther zit. nach Pühringer 2018). Für viele scheint ein vorübergehender oder immerwährender Abschied von der heimatlichen dörflichen Umgebung für die eigene Entwicklung unumgänglich, da sie sich darin nicht entfalten könnten. Dies ist ein maßgeblicher Grund, das Gefühl der Zugehörigkeit vorübergehend aufzugeben, da dieses über eine längere Zeit zu viel Verlust an Eigenständigkeit erfordert hätte. Auch wenn dies den schmerzhaften Prozess bedeutet, sich die eigenen Wurzeln zu kappen und gegebenenfalls dadurch zumindest eine gewisse Zeit nicht jene Stabilität aufzuweisen, wie es bei gesunder Verwurzelung der Fall gewesen wäre. Dadurch kann es passieren, dass jene Standhaftigkeit verloren geht, die erforderlich ist, um sich einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten, der in weiterer Folge und vor allem im Entscheidungsfall handlungsanleitend wäre. Andererseits lernen Menschen in einem veränderten menschlichen Umfeld Dinge aus anderen Perspektiven zu betrachten. Wenn sie sich im Klaren darüber werden, wie sie nicht behandelt werden und wie sie sich verhalten wollen, können viele leichter aus alten, verhängnisvollen Mustern aussteigen.

Da in dominanten Familienverhältnissen mehr oder weniger massive Einschränkungen in der eigenen Entfaltung vorherrschen, wird die Auflösung der Großfamilien von vielen begrüßt. Vielleicht weil vorerst nicht ersichtlich ist, welch hohen persönlichen wie auch gesellschaftlichen Preis wir als Menschheit für die soziale Entwurzelung, den Mangel an Fürsorge und Rückhalt bezahlen. Nicht selten wird eine Art Flucht angetreten, weil wesentliche Bedürfnisse in vielen Familien nicht erfüllt werden und junge Menschen – motiviert durch ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit – eine Wahlfamilie suchen, in der sie sich verstanden und geborgen fühlen. Während das kleine Kollektiv der eigenen Familie verlassen und teilweise auch abgelehnt wird, ordnen sich viele dem großen Kollektiv der gesellschaftlichen Anforderungen oft unhinterfragt unter ebenfalls aufgrund dieses als sehr wichtig empfundenen Bedürfnisses.

Aus meiner Sicht waren im 20. Jahrhundert neben der ideologischen Beeinflussung die prägendsten Momente, die zur Auflösung der Großfamilien geführt haben, Massentraumatisierungen durch die beiden Weltkriege. Dadurch konnten sehr viele Männer ihrer Rolle als Väter und Ehemänner nicht gerecht werden. Oder es wurde vom persönlichen Umfeld auf ihre schwere Zeit im Krieg Rücksicht genommen, wodurch sie ein phlegmatisches, süchtiges oder dominantes Verhalten entwickelt haben. Frauen waren aufgrund dieser Verhältnisse vielfach überlastet und durch eigene Traumatisierungen in ihren Handlungsspektren eingeschränkt. Hinzu kommt eine verdeckte politische Agenda, die Keile zwischen die Menschen zu treiben scheint, zwischen Mann und Frau, zwischen Jung und Alt wie auch zwischen den verschiedenen Ethnien (vgl. Mies 1996, Loibl 2014: 116ff). Darüber hinaus entsteht vielfach der Eindruck, ein  Familienzusammenhalt scheint als ein traditioneller Wert verworfen worden zu sein oder kam aufgrund mangelnder Bindung während der Kindheit seitens der Eltern erst gar nicht zustande.

Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass vor allem zwischen verschiedenen Weltanschauungen die Kluft immer größer zu werden scheint. Die Ursache dafür orte ich in einem gesellschaftlichen Paradigma, wonach es nur eine Meinung geben darf, die sich aus dem medialen Narrativ bildet und als eine Art Dogma aufgefasst werden soll. Wer eine andere Ansicht als die herrschende vertritt, betritt nach dem Kommunikationsforscher Rainer Mausfeld (2019) ein ideologisches Sperrgebiet, das als anrüchig gilt. Folge davon ist nicht selten, es dürfen Menschen, die anderes äußern als erwünscht zu sein scheint, von jenen getadelt, diffamiert und/oder ausgegrenzt werden, die das herrschende Narrativ glauben. Dieser Umstand widerspricht den Grundsätzen einer gewaltfreien Kommunikation und erweist sich in vielen Fällen als kontraproduktiv hinsichtlich eines friedlichen, geistig offenen und freundlichen Umgangs miteinander.

Der Mangel an Fürsorge und Geborgenheit für die Kinder liegt vor allem in der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit begründet, die seit Beginn der Industrialisierung die Alltagsarbeiten und die Kinderbetreuung immer weiter auseinander triften ließ. Dadurch haben junge, bewusste Eltern heutzutage nicht selten den Eindruck, ihre Kinder würden ihrem Leben und ihrer Er-/Beziehung[1] entgleiten. Eltern können dadurch ihren Kindern nicht jene Stabilität und Verbindlichkeit vermitteln, die für die Ausprägung einer individuellen Lebensgestaltung maßgeblich wäre. Ein Schlüssel dafür liegt nach meiner Ansicht in der Erfahrung einer ausreichenden Bindung und Geborgenheit, die junge Menschen veranlasst, auf eine gesunde und sozial verträgliche Weise ihre eigenen Wege zu gehen.


[1] Der Psychiater Hans Joachim Maaz vertritt  die Auffassung, Kinder brauchen keine Erziehung, sondern Beziehung. Der Gesundheitslehrer Raik Garve hält Bindung für eines der wichtigsten seelischen Grundbedürfnisse von Kindern.

Frauen waren traditionell Bäuerinnen, Mägde oder Handwerkerinnen, die tagein tagaus gearbeitet haben. Babys und Kleinkinder werden von vielen Müttern und Großmüttern in Afrika, Asien und Lateinamerika heute noch traditionell (sic!) auf den Rücken gebunden, um die notwendige Geborgenheit zu geben und Bindung aufzubauen. Gleichzeitig haben sie dadurch beide Hände frei, um ihre Arbeiten zu erledigen. Bei den Mosuo (vgl. Göttner-Abendroth 1998) ist es bis heute üblich, dass die Kinderbetreuung von jenen übernommen wird, die älter als 40 Jahre alt sind. Das hat für die jüngere, kräftigere Generation den Vorteil, ihre Zeit für andere Arbeiten verwenden zu können. Für die Kinder bedeutet ein derartiges Arrangement vielfach, mit ihnen wird geduldiger umgegangen und sie genießen mehr Freiheiten.

Auch hierzulande war es früher oft üblich, die Kinderbetreuung den Großeltern zu überlassen. Die Gewissheit dass Großeltern zugegen sind, gibt einem Kind Sicherheit, Geborgenheit und schafft Bindung. Gleichzeitig genießt ein solches Kind größere Freiheiten und spielt mit anderen Kindern der Umgebung. Eine solche Kindheitserfahrung kann als Basis dienen, in späteren Jahren zwischen Zugehörigkeit und Autonomie auf eine gesunde Art und Weise balancieren zu können.

Hat jemand als Kind oder in der Jugend hingegen unter einem dominanten Verhalten gelitten, kann es vorkommen, dass die Rückkehr in das eigene Heimatdorf vermieden wird. Für viele ist der Grund, warum sie ihr Glück in der Ferne suchen, einen möglichst weiten Abstand zu gewinnen, damit alte Verletzungen heilen können. Wenn die Erfahrungen während der Kindheit oder Jugend traumatisierend gewirkt haben, lösen die Bilder im Ort und die Begegnungen mit den Dorfbewohnern immer wieder alte Verwundungen aus. Nicht selten können Menschen nicht mehr in der Weise agieren und reagieren, wie sie es sich im Zuge ihres Erwachsenwerdens in der Fremde angelernt haben. Auch wenn Menschen durch Abstand und urbane oder internationale Lebensverhältnisse gelernt haben, bestimmte, für sie hinderliche Verhaltensmuster abzulegen, gelingt dies in jenem Umfeld, in dem sie als Kind geprägt wurden, oft nicht sehr leicht oder gar nicht. Einer der Gründe kann darin liegen, dass es unbewusst zu einem regressiven Verhalten kommt, wie dies in der Psychologie bezeichnet wird.

Ausblick

Alleine gegen den Widerstand anderer anzugehen, ist sehr anstrengend und ohne Ermutigung für viele auf Dauer kaum zu ertragen. Wer initiativ sein will, wird sich deshalb auf die Suche nach Gleichgesinnten begeben, nach Menschen mit ähnlichen Ansichten, Absichten, Werten, Haltungen, Motivationen und die sich für ähnliches begeistern können. Regelmäßig Grundsatzdebatten mit Menschen des unmittelbaren Umfeldes zu führen, wird mit der Zeit mühsam. Es kann auf Dauer nicht geduldet werden, wenn grundlegende Ansichten von einem Gegenüber ständig hinterfragt, kritisiert oder gar abgewertet werden oder jemand etwas nicht tun will obwohl es für andere selbstverständlich wäre. Vielfach wird dies als die eigene „Blase“ bezeichnet. Der Arzt und Psychiater Joachim Bauer (2008: 23) schreibt hingegen, wie wichtig es ist, unter gleich oder ähnlich Gesinnten zu leben:„Wir sind aus neurobiologischer Sicht auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen. Kern aller menschlichen Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Zuwendung und Zuneigung zu finden und zu geben.“

Daher ist es wichtig, nicht nur Gleichgesinnte, sondern Menschen zu finden, die die gewählten individuellen Lebensformen verstehen, wertschätzen und unterstützen können. Den Eindruck zu haben, vom unmittelbaren Umfeld ständig in Frage gestellt zu werden oder dass ein Rechtfertigungsbedarf gegeben ist, beeinträchtigt das Wohlbefinden, mindert den Selbstwert und lenkt von jenen Tätigkeiten ab, die sinnvoll sind und als wesentliche Aufgaben angesehen werden können.

Wer sich Unverständnis, Kritik und Abwertungen anderer zu Herzen nimmt und danach möglicherweise individuelle Handlungsschritte reduziert oder bleiben lässt, führt eher ein fremdbestimmtes Leben. Wer das Leben möglichst selbstbestimmt gestalten will, kann als ersten Schritt den dahinterliegenden Glaubenssätzen und Prägungen auf den Grund gehen. Es bedarf darüber hinaus einer großen Klarheit, was ich will und was ich auf keinen Fall dulden kann. Der Schritt zur Umsetzung braucht Kraft und Mut, die es ermöglichen, etwas zu tun, was von anderen (vorerst oder längerfristig) nicht befürwortet wird. Vor allem bedarf es eines ausgeprägten Selbstbewusstseins, um gehässige, haltlose Kritik zurückzuweisen und sich dadurch nicht entmutigen zu lassen. Doch ist es dazu erforderlich, ein menschliches Umfeld zu finden, in dem anders und man/frau selbst sein geschätzt wird. Denn die wenigsten halten die Anstrengung auf Dauer durch, wenn er oder sie permanent als Außenseiter:in angesehen wird oder sich derart empfindet. Auch deshalb, weil dies, wie im Zitat von Joachim Bauer zum Ausdruck kommt, unserem menschlichen Wesen nicht entspricht.

Ein gutes Leben bedarf vor allem neuer Umgangsformen miteinander, um das Leben füreinander leichter und angenehmer zu gestalten. Dazu gehören beispielsweise ein freundlicher Umgangston, ein Lächeln, Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, die innere Haltung, andere sein zu lassen wie sie sind. Es wäre humaner, anzuerkennen, dass die Alltagsgestaltung und Entscheidungen eines Menschen seine Privatsphäre ist. Neue Ideen und Initiativen können zur Kenntnis genommen werden ohne eine negative Kritik darüber zu äußern. Ganz abgesehen davon, wäre es ein bedeutender Schritt zu mehr Menschlichkeit, wenn Verleumdungen überwunden werden könnten wie auch Tratschereien und andere Handlungsformen, die einen Menschen herabwürdigen wie beispielsweise Ausgrenzungen aufgrund unterschiedlicher Ansichten und Weltbilder. Es fehlt in unserer Kultur eine Grundanlage an wertschätzender Haltung und fürsorglichem Verhalten nicht nur Kindern sondern allen gegenüber, auch der Pflanzen- und Tierwelt. Mit einer großzügigen Haltung wird es möglich werden, anderen zu überlassen wie sie ihren Alltag gestalten und welche Ziele sie verfolgen, durch die ein selbstbestimmter Alltag mehr und mehr lebbar wird.

Literatur

Adorno, Theodor W. 1977: Kulturkritik und Gesellschaft Band I: Prisma ohne Leitbild, Band II: Eingriffe, Stichworte In: Tiedemann, Rolf (Hg.) 1977: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften Band 10.1. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

Adorno, Theodor 1955: Kulturkritik und Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Berlin https://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/adornolyrik.pdf (21.8.2023)

Anthony, Carol, Moog, Hanna 2004: I Ging. Das kosmische Orakel. Atmosphärenverlag München.

Bernays, Edward 2007: Propaganda. Die Kunst der Public Relations, orange-press Berlin (Copyright 1928 und 1955 Edward Bernays)

Coleman, John 2005: Das Tavistock Institut, J.K. Fischer Verlag Gelnhausen/Roth

Göttner-Abendroth, Heide 1998: Matriarchat in Südchina, Verlag Kohlhammer Stuttgart, Berlin, Köln

Kuby, Clemens 1996: Todas – Am Rande des Paradieses. Die Dokumentation gewann den ONE-FUTURE-Preis auf dem Filmfest München 1996

Loibl, Elisabeth 1997: Der Weg entsteht im Gehen – Bäuerliche Initiativen im ländlichen Raum. Forschungsbericht Nr. 39 der Bundesanstalt für Bergbauernfragen Wien

Elisabeth Loibl 2003: Das Brot der Zuversicht. Über die Zusammenhänge von Esskultur und bäuerlicher Landwirtschaft. Forschungsbericht der Bundesanstalt für Bergbauernfragen Wien.

Loibl, Elisabeth, Krammer, Josef 2007: Das Politische ist persönlich, das Persönliche ist politisch – Zeitzeugen der Agrarpolitik, Forschungsbericht Nr. 58 der Bundesanstalt für Bergbauernfragen Wien.  

Loibl, Elisabeth 2014: Tiefenökologie. Eine liebevolle Sicht auf die Erde, oekom verlag München

Maaz, Hans Joachim 2012: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm. C.H. Beck Verlag München

Mausfeld, Rainer 2019: Warum schweigen die Lämmer? Vortrag am DAI Heidelberg am 27.6.2019 https://www.youtube.com/watch?v=-kLzmatet8w

Passio, Mark 2013: Natural Law https://www.youtube.com/watch?v=TNEV8u7xgsY im Yale Omni College Ballroom am 19. Oktober 2013 (28.8.2023)

Pletscher, Marianne 1994: Tal der Frauen, Dokumentation über Frauen in Buthan. https://mariannepletscher.ch/pagina.php?0,2,10,33

Pühringer, Markus 2018: Herrschaftsfrei leben! Wie wir Menschen durch Herrschaft, Kapitalismus und Patriarchat aus paradiesischen Zuständen vertrieben wurden … und wie wir wieder dahin zurückkehren können. Planet Verlag St. Pölten

Trotta, Margarethe von 2012: Hannah Arendt (Claim: Ihr Denken veränderte die Welt), deutscher Spielfilm mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle.

https://www.goettner-abendroth.de/publikationen/buecher/



[1] https://www.hager-katharina.at/grundlagen/umgang-mit-widersprüchen/grundthema-zugehörigigkeit-vs-autonomie/






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